„Auf deiner Gedenkseite habe ich ein altes Foto von dir in jungen Jahren entdeckt. Das kannte ich noch gar nicht – dein verschmitztes Lächeln hat sich nicht verändert.“

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Heinrich Ebelgestorben am 2. März 2023

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Lieber Heinrich, hier mein Erinnerungstext an Dich. Viel lieber hätte ich noch einmal mit Dir zusammen erinnert.

Heinrich Ebel: When I was sad last Friday.

Wie wenig bleibt uns von einem Leben. Ein paar Augenblicke, die vor dem inneren Auge aufblitzen, wie dieses Bild von unserer vorletzten Begegnung: Heinrich und ich auf dem letzten Klassentreffen, auf dem ich war, noch am frühen Nachmittag im Garten. Hinter uns der Teutoburger Wald, unter unseren Füßen der Rasen. Heinrich schwärmt von einem neuen Buch, das „Fleisch ist mein Gemüse“ heißt, und das von einem gewissen Heinz Strunk stammt. Später dann mit Monica und ihm im „Milesstones“. Schwer betrunken, über früher redend, und wir beide ununterbrochen rauchend. Nein, das war nach dem Klassentreffen fünfzehn Jahre vorher, oder? Genau. Da hieß das „Milesstones“ auch noch „Pönk“. Aber geraucht wurde beide Male kräftig.

Überhaupt rauchen. Haben wir nicht zusammen angefangen? Also das richtige professionelle Rauchen, nicht nur so ab und an? Javanse Jongens. Halfzware, ordentlich gesoßt. Und wenn wir genug Geld hatten: Filterlose Gitanes, Gauloises, Roth-Händle. Richtig kratzen musste der Tabak, sonst hätte man es gleich lassen können. Rauchen in grünen Parka-Jacken. Ich sehe Heinrich eigentlich immer mit einer Kippe in der Hand. Dazu zwischendurch ein kurzer Blick zu Boden, wie beim Austreten einer Kippe. Hochkucken. Dann das Lächeln, immer etwas schüchtern und verlegen.

Wir waren beste Freund, doch, das kann man sagen, auch wenn wir uns vielleicht nicht so genannt hätten, weil wir beide vorsichtig mit solchen Bezeichnungen waren. Keine exklusive Zweier-Freundschaft, eine Clique, von Gleichgesinnten, Daniel, Dirk, Sefi, der sanfte Andreas Buth, der früh in einer Garage verbrannte, Eberhard.

Wir fanden die gleichen Filme toll, die gleichen Schauspieler und die gleiche Musik. Stanley Kubrick, A Clockwork Orange, 2001, Louis Malle, Lacombe Lucien, Fassbinder, Ulli Lommel, Jean-Luc Godard. King Crimson, die ersten Genesis-Alben, Emerson Lake and Palmer,Triumvirat, Inga Rumpf, Frumpy. ProgRock, der immer jazziger wurde, Charlie Mariano im Bunker Ulmenwall. Weather Report. Klaus Doldinger. Volker Kriegel. Wir beteten den Moog Synthesizer an, egal, was man darauf spielte, gingen sogar zu Free Jazz-Konzerten. Hauptsache, es gab nicht allzu viele andere, die sich auf das einigen konnten, was wir hörten. Immer Avantgarde, nie Bay City Rollers. Gary Glitter allenfalls heimlich, also ich, Heinrich wahrscheinlich nicht.

Die anderen, die Alten, die Etablierten, die Lehrer, aber auch einige andere Klassenkameraden – gendern war nicht nötig, wir waren auf einem Jungengymnasium, auch wenn es pro Klasse ein bis drei Mädchen gab - waren mindestens ein ebenso starker Kitt, wie all das, was wir mochten. Wir verachteten sie, zogen über sie her. Wie leer und peinlich sie doch waren. Wir dagegen: Dandys. Jeder von uns war ein zweiter Alex aus „Clockwork Orange“. Wir veranstalten Herren-Abende; rauchten da mit großer Geste Zigarren oder Zigarillos und tranken Dimple-Whisky, den wir uns im ALDI besorgten. Es musste unbedingt dieser Whisky sein, wegen „Illusions on a Double Dimple“ von Triumvirat; die Platte mit dem Cover, auf dem eine Maus aus einem Ei kriecht.

Wir tranken und wir lauschten: „Mine is the road to nowhere /No sign, no light to guide me / Who could describe my anger / when I was sacked last Friday?“ Ich verstand statt 'sacked' immer nur 'sad', was vielleicht mehr über mein damaliges Ich aussagt als mir heute lieb ist. Ich glaube, unsere pubertierende Arroganz war auch immer gepaart mit einer sanften Melancholie. Doch, das stimmt, wir waren melancholisch, aber nur, wenn keiner hinsah. Keiner von den anderen jedenfalls.

Etwas Schriftliches ist mir auch geblieben. Das Flugblatt, das Heinrich und ich gemeinsam geschrieben haben, im November 1973, als wir beide in die Obersekunda gingen. Ich war gerade noch so sechzehn, Heinrich fünfzehn. Überschrieben war das - mit einer Wachsmatrize abgezogene - DIN-4-Blatt pathetisch mit „Solidarität mit Rüdiger Peters“. Der Anlass war läppisch, von heute aus gesehen. Irgendeiner hatte eine Phiole mit Buttersäure im Klassenzimmer zerbrochen, Klassenlehrer Lucke daraufhin eine verbotene Kollektivstrafe verhängt, alle hatten sich brav und folgsam bestrafen lassen, nur Rüdiger Peters nicht, weshalb ihm jetzt eventuell sogar ein Schulverweis drohte.

Ich glaube, es ging uns damals gar nicht so sehr um Rüdiger. Heinrich und ich wollten die Geschichte nutzen, um endlich die Ordnung am Bielefelder Ratsgymnasium umzuwerfen. Die Schule sollte brennen, und unserer Flugblatt sollte dabei der Funke sein, der den Steppenbrand entzündete. Zumindest ich stellte mir das so vor. Wir schrieben: „Denn es geht hier nicht nur um ein einzelnes Schicksal, sondern um die Rechte von Euch allen. Jedem von Euch kann so etwas passieren.Wir haben uns lange genug den Mund verbieten lassen; wir haben lange genug gekuscht und uns ruhig verhalten. Denn wir merken immer wieder: Wer sich wehrt, wird fertig gemacht! Aber gemeinsam sind wir stark. Zwei, drei, vier, fünf Schüler kann man absägen, aber nicht dreißig, vierzig, fünfzig.“

Die Schule brannte nicht, aber immerhin knickte das Schulkollegium ein, und nahm Rüdigers Bestrafung zurück. Ein kleiner Triumph für uns.

Damals, in den wenigen Jahren bis zum Abitur blieben Heinrich und ich uns sehr nahe. Wir besuchten uns auch gegenseitig in unseren Elternhäusern, wobei ich wohl deutlich öfter bei Heinrich in der Max-Habermann-Strasse war als er bei uns in Bethel. Das lag daran, dass Heinrichs Eltern öfter nicht da waren, so daß er sturmfreie Bude hatte. Ich mochte das Haus und die Gegend rund um den Bültmannshof sehr. Alles war hier neu und frisch und roch nach Zukunft. Ich kam mir hier vor, als sei ich einen Kubrick-Film geraten; eine Mischung aus 2001 und A Clockwork Orange.

Wir hörten hier bisweilen Musik. Platten, die Heinrich oft als erster hatte, auf einer sehr guten Anlage. Auch Plattenspieler waren damals wichtig, Verstärker und Boxen, und wurden mit religiöser Inbrunst diskutiert. In Heinrichs Haus spielte sich auch ein Treffen ab, dem ich später einmal eine kleine Geschichte gewidmet habe, die ich „Die Chance meines Lebens“ nannte. Geplant war eine Art Selbsterfahrungs-Encounter, das, wie mir später auffiel, Züge der späteren „Big Brother“-Serie tragen sollte.

Dazu sollte sich unsere Clique plus einigen Gästen über ein Osterwochenende in einem leeren weißgestrichenen Raum im Hause Ebel versammeln, und so lange über alles reden, bis jeder sein Innerstes nach auf Außen gekehrt und seine geheimsten Wünsche offenbart hatte. Die Bedingungen war ideal, denn Heinrichs Eltern waren über die Feiertage einmal mehr verreist. Trotzdem scheiterte das Vorhaben, weil am Ende niemand „über alles“ reden wollte. Es traute sich einfach niemand, und so gaben wir nach ein paar Stunden Small Talk auf. Dennoch: Heinrich war wohl der einzige Mensch damals in Bielefeld, mit dem ich so etwas hätte versuchen können. Wir waren wirklich sehr vertraut.

Wie so viele andere verlor ich auch ihn nach dem Abitur aus den Augen. In den Neunzigern trafen wir uns noch einmal zufällig in der Lebensmittelabteilung des Kaufhofs in Frankfurt am Main. Dunkel erinnere ich mich an die Überraschung. Heinrich war damals Arzt an einem Krankenhaus direkt um die Ecke, in Gießen. Daraufhin besuchten mich Monica und er einmal in Frankfurt. Das weiß ich aber nur, weil ich es mir notiert habe. Wirklich erinnern kann ich mich nicht. So geht es mir mit vielen Dingen, die in der Mitte meines Lebens passiert sind. Der geplante Gegenbesuch in Gießen kam nicht mehr zustande.

Wir sehen uns dann noch genau zwei Mal. Im Juni 2006, bei dem oben schon erwähnten Klassentreffen. Höre lange nichts. Bin ja auch weit weg, in China. Erst 2019 bin ich wieder länger da. Im Juni eine Mail von Daniel. „Heinrich geht es nicht gut.“ Irgendetwas mit MS. Er will mich auf dem Laufenden halten. Etwas später schreibt er, dass Heinrich bettlägerig ist. Also rufe ich ihn im Juli an. Das erste Telefongespräch seit Jahrzehnten. Ich bin schockiert, wie schwach er klingt. Er scheint aber trotzdem guter Dinge.

Am 31. August 2019 dann das letzte Treffen. Mit Daniel und Ludger von Bielefeld aus nach Hamm. Heinrich freut sich sehr, uns zu sehen. Für uns lässt er sich für eine knappe Stunde in den Sessel heben. Er ist sehr dünn geworden und scheint schwach, versucht aber, sich nichts anmerken zu lassen. Wir reden über früher, ein bisschen über die Schule, aber hauptsächlich über Musik. Wie wichtig die für ihn ist. Das hat uns immer verbunden. So wie das Rauchen Ich habe es inzwischen aufgegeben. Nur Heinrich ist ihm treu geblieben, auch wenn ihm Monica jetzt die Zigarette halten muss.

Wir Freunde hatten uns vorgenommen, Heinrich von nun an öfter zu besuchen. Doch dann kam die Pandemie. Anschliessend ging ich zurück nach China, und als ich wieder in Deutschland war, wurde mein Vater schwer krank. So blieb es bei diesem letzten Treffen.

Als mir Monica dann Anfang März die Nachricht schickte, dass Heinrich in den frühen Morgenstunden des 2. März gestorben war, setzte ich mich an meinen Rechner, suchte auf YouTube „Illusions an a Double Dimple“ und hörte die ganze Platte wieder, zum ersten Mal seit mindestens vierzig Jahren. Zum ersten Mal verstand ich auch das Verb im letzten Vers. „Mine is the road to nowhere /No sign, no light to guide me / Who could describe my anger / when I was sacked last Friday?“

Sad, dachte ich, hätte doch viel besser gepasst. Inzwischen sowieso.