Hey, wenn ihr fünf Minuten Eurer Zeit habt… für Rudi. Rudi war mein Freund.
Wo fange ich an. Vielleicht beim „Tarzan-Dach“. Ich habe von Geburt an einen verengten Hörgang. Ein Familienerbstück. Auf dem rechten Ohr kann ich hohe Frequenzen praktisch nicht hören. Wenn es sehr laut ist, muss ich Menschen mein linkes Ohr zuwenden oder auf ihre Lippen achten. Wenn es sehr leise ist und mir rechts jemand etwas zuflüstert, kann ich es nicht verstehen. Wenn jemand nuschelt, spiele ich stille Post. Wenn Grönemeyer singt, muss ich raten.
Als 1984 die „4630 Bochum“ rauskam, war ich fünf. Rudi war 28. Er lebte als Student bei uns oben im Haus. Rudi hatte alle Platten, die es gab, obwohl sein Studentenzimmer winzig klein war. Ich liebte dieses Zimmer. Es war voll mit Kabeln, Anlagen, Lautsprechern und vor allem schweren, silbernen Mikrofonen. Solche, wie sie Dieter Thomas Heck in der Hitparade hatte.
Wenn ich aus dem Kindergarten kam, lief ich immer sofort die Treppe hoch in Rudis Zimmer. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals gesagt hätte, dass er keine Zeit hätte oder dass ich stören würde. Sein warmes „Hey, Johann“ hat er mir ein Leben lang entgegengerufen, immer wenn wir uns gesehen haben. Ich höre es gerade jetzt so laut, als würde er in diesem Moment um die Ecke kommen. In seinem Zimmer griff ich mir das Mikrofon und stellte mich auf seinen schwarzen Teppich. Meine Bühne. Und Rudi legte die Bochum auf. Meinen Lieblingssong „Alkohol“. Immer und immer wieder. Ich sang lauthals ins Mikrofon. Von dem, was Grönemeyer da sang, hatte ich keine Ahnung. Alkohol ist ein Sanitäter in der Not (sicher etwas Gutes), Alkohol ist ein Fallschirm und ein Rettungsboot (das sagte mir was). Und dann kam die Zeile, die Grönemeyer wirklich unsauber eingesungen hat. Alkohol ist das Drahtseil, auf dem du, auf dem du stehst. Ich und mein degeneriertes rechtes Ohr verstanden: Alkohol ist das Tarzan-Dach, auf dem Du stehst. Ich fand es - und finde es bis heute - die beste Zeile im Refrain. Tarzan kannte ich, und sein kleines Haus in den Wipfeln des Dschungels. Und dort oben auf dem Dach musste es der beste Platz der Welt sein. Vom Tarzan-Dach blickte man sicher in die Unendlichkeit.
Alles um Rudi und alles an Rudi war Musik. Meine ersten Mix-Tapes habe ich von ihm. Immer wieder, mein ganzes Leben lang, brachte er mir Samplers mit. Vor allem, wenn eine Party anstand. „Kannst Du so durchlaufen lassen“, sagte er mir jedes Mal. Als DJ Rudi legte er auf dem großen Hoffest auf, dass ich zum Abi und zu meinem 18. Geburtstag feierte. Und als ich 40 wurde und diese grandiose Feier mit hunderten Leuten wiederholte, war es wieder Rudi, der bis morgens um acht auflegte. Und wir tanzten durch die Nacht. So wie im Zweischlingen, wo wir in der Oberstufe jeden Donnerstagabend verbrachten. Ich kannte den DJ, und meine Musikwünsche spielte Rudi immer sofort. Als er das Movie am Bahnhof übernahm, standen wir immer schon auf der Gästeliste. Ich war total stolz, wenn wir uns am Mischpult abklatschten.
Rudi war der Grund, warum ich mit Klavier anfing. Er hatte seine Band Trickbag, die es zeitweise sogar in die WDR-Radiosender geschafft hatte. Bei einem Konzert in der Ravensberger Spinnerei irgendwann in dem 80er Jahren stand ich mit meiner Mutter weit vorne, damit ich ihn sehen konnte, wie er cool ins Keyboard griff. Ich weiß noch, nach dem letzten Song warfen alle Bandmitglieder kleine Gummibärchentüten in die Menge. Rudi suchte so lange durch das blendende Scheinwerferlicht, bis er den kleinen Johann gefunden hatte, und warf mir alle Tüten zu.
Irgendwann hatte ich meine eigene Band. In Rudis Musik-Shop an der Kreuzstraße vervielfältigten wir unsere erste CD. Wann immer wir Equipment brauchten, wann immer ein Teil fehlte, musste ich ihn nur kurz anrufen. Er war sofort da. Rudi war immer da. Für mich. Und auch für meine Mutter, für die er der treueste Freund überhaupt war. Wenn sie die Fernsehsender in Berlin wieder einmal verstellt hatte, sagte er, dass er ohnehin gerne mal wieder in die Hauptstadt wollte, fuhr hin, und programmierte die ARD zurück auf Position eins. Zuletzt hatte er ihre Webseite gehütet, alle Anfragen wie ein beschützender Manager bearbeitet und abgeblockt. Er hat sorgsam alle Mails, die nach ihrem Tod eingegangen waren, gesichtet und mir nur die lieben Worte weitergeleitet.
Ich kenne keinen hilfsbereiteren Menschen. Ich kenne niemanden, der so positiv trotz aller Rückschläge nach vorne blickte. Niemanden, der so sehr für Musik gelebt hat. Dass ihn die Krankheit getroffen hat, dass der Tod ihn in so einer Windeseile geholt hat, kann ich nicht akzeptieren. Ich finde den Tod wahllos. Ich finde ihn ungerecht.
Wenige Tage vor seinem Tod haben wir noch lange telefoniert. Ich hörte, wie geschwächt er war, aber niemals hätte ich gedacht, dass wir uns nie mehr hören werden. Wir haben über das Leben gesprochen. Und wie wichtig es ist, dass man am Ende sagen kann: Es war ein gutes Leben. Es hätte gerne länger gehen dürfen, aber ich hatte ein gutes Leben, hat Rudi gesagt.
Ich bin dankbar, dass er Teil meines Lebens war. Seine Todesnachricht hat mir den Boden weggezogen. Ich denke an Eva und Marie. Seine kleine Familie. Sie waren sein ein und alles. Nichts auf dieser Welt, was ihn ersetzt.
Ich hab die Bochum aufgelegt. Seite A. Lied 4. Lieber Rudi, ich wünsche mir, dass Du irgendwo auf dem Tarzan-Dach stehst und den Ausblick in die Unendlichkeit genießt. Ohne Schmerzen. Ich wünsche mir, dass Antje und Du tanzen, als gäb´s kein Morgen mehr.
Es gibt kein Morgen mehr. Da müsste Musik sein. Es ist so still ohne ihn.